Liebe Musikfreundinnen und Musikfreunde
Ich erlaube mir ausnahmsweise, Sie in einem aussermusikalischen Fall zu informieren. Denn ich bin sehr betroffen über die seit Jahren nach
Europa drängenden Flüchtlinge einerseits und über die äusserst bescheidene und zugleich restriktive Migrationspolitik der EU und unserer
Schweizer Migrationsämter andererseits.
Diese Betroffenheit wurde noch durch zwei persönlich Erlebnisse verstärkt.
Erlebnis 1:
Kürzlich war ich an einem Wochenende beruflich in Mailand und sah in der Nähe des Bahnhofs Milano Centrale viele heimatlose Leute, dem Aussehen nach
zum grossen Teil aus Eritreer und Somalier. Es regnete zwei Tage lang wolkenbruchartig, und diese "Homeless People" lungerten auf Kartons und
in Schlafsäcken irgendwo am "Schärm", zum Teil vor den Schaufenstern erlesener Bekleidungs- und Accessoire-Geschäfte wie Armani, Versace und dergleichen.
Der Kontrast zwischen den Luxusläden und diesen abgehalfterten Flüchtlingen plagte mich derart, dass ich mir sogleich in einer Bar beim Bahnhof mit einem
(sündhaft teuren) Bier emotionale Linderung verschaffen musste.
Erlebnis 2:
Meine Freund Rami ist ein junger Palästinenser aus dem Libanon, erhielt an der Uni in Torino (I) seinen Ingenieur-Abschluss und heiratete kurz
darauf eine Schweizerin. Nach zwei Jahren zog seine Frau aus und verlangte die Scheidung.
Rami ist intelligent, charmant, arbeitsam, gut integriert und kommt selber für seinen Lebensunterhalt auf; er fällt also der Allgemeinheit finanziell
nicht zur Last. Trotzdem - Ende November muss Rami die Schweiz verlassen, da er nicht lange genug mit seiner Frau zusammengelebt hat.
Die Schweiz leistet sich im zweiten Fall meines Erachtens eine ungeheure Verschwendung an wirtschaftlichem und sozialem Potential;
alles - selbstverständlich - völlig legal und legitim.
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Am 3. November 2016 erhielt ich von der Belper Organistin
Dora Widmer folgendes Email:
"Liebe Freunde und Bekannte,
Seit dem 10. Oktober gewähren wir - die Reformierte Kirche Belp-Belpberg-Toffen - einer Frau und ihrem achtjährigen Sohn Kirchenasyl. Sie haben
Unglaubliches durchgemacht und sollen nun, einen Tag bevor sie berechtigt wären, in der Schweiz einen Asylantrag zu stellen, nach Italien ausgeschafft
werden. Wir sind alle sehr besorgt und bitten euch um eure Solidarität. Näheres findet ihr im Anhang und besonders auch auf der heute aufgeschalteten
Homepage. Bitte unterschreibt dort als Unterstützer und Unterstützerinnen unseres Anliegens."
Der Kirchgemeindepräsident der Ref. Kirche Belp-Belpberg-Toffen schreibt:
"Die Schreckensbotschaft ist leider eingetroffen. Das Migrationsamt will gemäss beigefügtem Schreiben am "Vollzug der Wegweisung festhalten", eine
Diskussion findet nicht statt, die Polizei kann jederzeit eintreffen. Wir, d.h. vorallem die Leute von Solidarnetz und das Pfarrteam haben nun
den Weg in die Öffentlichkeit gewählt. Medienschaffende haben bereits die Pressemitteilung aufgenommen, einzelne Online-Artikel sind schon erschienen…
Morgen Abend läuft die Frist ab - dann könnten die beiden in der Schweiz ein Asylgesuch stellen - die Hoffnung stirbt zuletzt."
Pressemitteilung Kirchenasyl Reformierte Kirche Belp-Belpberg-Toffen:
"Die Reformierte Kirche Belp-Belpberg-Toffen gewährt seit dem 10. Oktober 2016 Frau Freweyni BEYENE und ihrem Sohn Nimerod ROBEL aus Eritrea
Kirchenasyl in den Räumlichkeiten der Reformierten Kirche Belp-Belpberg-Toffen.Freweyni Beyene verliess Eritrea zusammen mit ihrem heute
8-jährigen Sohn Nimerod im Oktober 2014 auf der Suche nach ihrem vor dem Regime geflüchteten Mann.
Anstatt in Libyen den Vater Nimerods wiederzufinden, gerieten die beiden in Gefangenschaft des "IS" und erlitten schwere Folter.
Mutter und Kind sind psychisch schwer angeschlagen. Nach ihrer Flucht über das Mittelmeer glaubten die beiden im Sommer 2015 in der
Schweiz Zuflucht gefunden zu haben.
Nun droht ihnen die Ausschaffung nach Italien gemäss Dublin-Verordnung. Gestützt auf verschiedenste Berichte müssen wir daran zweifeln,
dass eine familienwürdige Unterbringung und die akut notwendige Fortsetzung der psychiatrischen Behandlung in Italien gesichert sind.
Die Familie würde sehr bald auf der Strasse stehen. Die Ausweisung der Familie ist deshalb auch nicht zu vereinbaren mit den
Verpflichtungen der UN-Kinderrechtskonvention und dem übergeordneten Gut des "Kindeswohl".
Da die juristischen Möglichkeiten offenbar ausgeschöpft sind, sieht das Pfarrteam der Reformierten Kirche Belp-Belpberg-Toffen keine
andere Möglichkeit mehr als das Kirchenasyl, um Nimerod und Freweyni in dieser für sie lebensbedrohlichen Situation Schutz zu bieten.
Das Pfarrteam und alle unterstützenden Personen wehren sich gegen die unmenschliche Ausschaffung der verletzlichen Kleinfamilie nach Italien.
Wir fordern die Behörden auf, das Kirchenasyl zu respektieren und laden den für den Vollzug von Dublin-Ausschaffungen zuständigen
Regierungsrat Hans-Jürg Käser zu einem Gespräch in unserem Pfarramt ein.
Für das Pfarrteam der Reformierten Kirche Belp-Belpberg-Toffen
Pfr. René Schaufelberger"
Links:
Reformierte Kirche Belp
Solidaritätsnetz Bern
Amnesty International, Bericht 3.11. 2016
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Jede Woche versende ich an die 200 Emails an Musikbegeisterte, um auf die Orgelmatinée oder sonst ein Konzert am Wochenende hinzuweisen.
Heute habe ich mir ausnahmsweise erlaubt, die Mailadressen-Liste zu "zweckentfremden" und habe ein Rundmail obigen Inhalts verschickt.
Reaktionen erhielt ich bald darauf. Ich zitiere...
"Chapeau lieber Markus für deinen Bericht! Es ist fürchterlich, was da passiert!"
"Lieber Markus, du sprichst mir aus dem Herzen. In meiner Deutschklasse mussten bereits drei Frauen die Schweiz wieder verlassen,
die eine war bereits sehr gut integriert mit zwei Teenagern.
Und nun ist plötzlich vor den Herbstferien T..,ein junger Tibeter aus meiner Klasse, der hier schon gearbeitet (und unseren Dreck geputzt)
hat, wieder in ein Asylzentrum verfrachtet worden. Er hatte vorher schon eine eigene kleine Wohnung und hat superschnell Deutsch gelernt.
Aus der Klasse einer meiner Kolleginnen geschah dasselbe mit einer älteren, tibetischen Frau. D..., die unter schweren Depressionen leidet,
weil sie keinen Kontakt zu ihrer Familie und ihren Kindern aufbauen darf, musste aus ihrer kleinen Wohnung in Thun wieder in Asylzentrum- sie
fühlt sich wie ein "Haustier der Schweiz", das hier noch essen und schlafen darf.
Ich könnte dir viele weitere Geschichten erzählen... Ich gehe nach der Arbeit und den Geschichten aus meiner Deutschklasse durchs Bälliz
nach Hause und schäme mich für uns... zunehmend."
"Lieber Markus, vielen Dank für Deinen engagierten e-Brief. Du sprichst mir aus dem Herzen! Ein Kirchenasyl würde der Kirchgemeinde Thun gut
anstehen, mit meiner Unterstützung müsste man rechnen... Was ich persönlich zu diesem Thema konkret vorhabe, werde ich Dir zu gegebener Zeit
mitteilen.
Übrigens, die Kirche Belp macht es uns vor (heute Morgen in den Nachrichten, im Regionaljournal)!"
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... wie sagte doch weiland Madame de Meuron, als sich ein unwissendes Bäuerlein auf ihren Stammplatz in der Kirche Amsoldingen gesetzt hatte und von
besagter Madame postwendend weggeputzt wurde:
"Im Himmelll sy mech de einisch glych, abech hie uf Ächde muess Ochnig hechsche!"