1. Der Warenkorb in der Theorie
Die SKOS (Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe)
In der Rubrik ME / CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom) ist
nachzulesen, wie es Herrn XYZ bei der IV ergangen ist. Da die IV dem Herrn XYZ - einem ME/CFS-Patienten - einen Rentenanspruch verweigert hat,
lebt dieser von der Sozialhilfe. Lebensmittel und weitere Artikel des täglichen Bedarfs lässt er sich einmal in der Woche vom Migros-Lieferdienst bringen.
Ich dachte mir, ich könnte doch mal nachschauen, wie hoch denn die Sozialhilfe in der reichen Schweiz sei. Und da stiess zunächst einmal auf die
SKOS (Schweizerische Gesellschaft für Gesellschaft). Die SKOS hat 2020 ein Grundlagenpapier unter dem Namen
„Das soziale Existenzminimum der Sozialhilfe” herausgegeben. Es lohnt sich, diese Broschüre zu lesen.
Besonders einprägsam ist die folgende Grafik:
Ich nuschte dann weiter auf der Seite der SKOS herum und entdeckte schliesslich die
SKOS-Richtlinien und damit die
empfohlenen Beträge, die eine
Einzelperson pro Monat dieses Jahr beanspruchen kann.
Im Kapitel
C.1. Zweck der materiellen Grundsicherung
steht:
Die materielle Grundsicherung ermöglicht eine bescheidene und menschenwürdige Lebensführung mit sozialer Teilhabe
(soziales Existenzminimum).
Sie umfasst folgende Positionen:
Fr. 1'031.-
Fr. 600.- bis 900.- (Stand 2016)
max. Fr. 210.- (nach Abzug der Prämienverbilligung)
Die materielle Grundsicherung wird individuell ergänzt durch:
variabel
Fr. 100.- bis 300.-
Fr. 400.- bis bis 700.- Die Obergrenze der kumulierten IZU und EFB beträgt 850 Franken pro Monat und Unterstützungseinheit.
Mich nahm dann wunder, was mit dem GLB (Grundbedarf für den Lebensunterhalt) alles zu berappen sei. Der GLB ist ein Pauschalbetrag und
kann von der unerstützten Person nach eigenem Ermessen eingeteilt werden. Die SKOS macht dabei einen (unverbindlichen) Einteilungs-Vorschlag
im
SKOS-Warenkorb.
Dabei wird der GLB (100%) eingeteilt in verschiedene Ausgaben:
Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren
Bekleidung und Schuhe
Energieverbrauch (ohne Wohnnebenkosten)
Allgemeine Haushaltsführung
Persönliche Pflege
Verkehrsauslagen
Nachrichtenübermittlung, Internet, Radio/TV
Bildung, Freizeit, Sport, Unterhaltung
Übriges
Total
41.3%
9.8%
4.7%
4.2%
9.6%
6.1%
8.8%
13.3%
2.2%
100%
2013:
2020:
2022:
2023:
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
986
997
1'006
1'031
Und so rechnete ich für dieses Jahr den Verteilervorschlag vom SKOS-Warenkorb noch in Fränkli um, nach wie vor
für einen 1-Personen-Haushalt.
Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren
Bekleidung und Schuhe
Energieverbrauch (ohne Wohnnebenkosten)
Allgemeine Haushaltsführung
Persönliche Pflege
Verkehrsauslagen
Nachrichtenübermittlung, Internet, Radio/TV
Bildung, Freizeit, Sport, Unterhaltung
Übriges
Total
41.3%
9.8%
4.7%
4.2%
9.6%
6.1%
8.8%
13.3%
2.2%
100%
pro MonatFr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
457
101
49
43
99
63
91
137
23
1'032
pro Jahr (gerundet)Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
5'280
1'210
590
520
1'190
760
1'090
1'640
280
12'560
Wenn mehr als 1 Person (ein Paar oder eine Familie mit Kindern) Sozialhilfe bezieht , dann wird der GLB nicht etwa
pro-portional zur Anzahl bedürftiger Personen ausgerichtet, sondern gemäss einer von der SKOS ausgerechneten Skala. Gemäss dieser Skala und dem
SKOS-Warenkorb habe ich ausgerechnet, wieviel Fränkli pro Tag und pro Person fürs Essen, Trinken und Rauchen vorgesehen wind:
Ausgaben fürs Essen, Trinken und Rauchen
GLB pro Monat
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
1'031
1'577
1'918
2'206
2'495
2'697
GLB pro Jahr
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
12'372
18'924
23'016
26'472
29'880
32'364
Davon 41.3 %
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
5'110
7'816
9'505
10'933
12'340
13'366
pro Tag für alle
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
14.00
21.40
26.04
29.95
33.81
36.62
pro Tag für 1 Person
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
14.00
10.70
8.80
7.50
6.70
6.10
100 %
76 %
63 %
54 %
48 %
44 %
Ich mag mich noch erinnern, wieviel ich im Alter von etwa 11-18 Jahren gefressen habe (anders kann man es ja nicht nennen). Es ist zu vermuten, dass
Kinder in diesem Alter auch heutzutage noch gleichviel (fr)essen.
Bekannt ist in der Schweiz die sog.
Heiratsstrafe. Wenn ich die obige Tabelle betrachte, bin ich beinahe geneigt, von einer
Sozialhilfestrafe oder auch
Familienstrafe zu sprechen. Na ja, es wird ja eher selten vorkommen,
dass eine Familie mit zwei oder mehr Kindern Sozialhilfe beziehen muss. Aber wie, bitte schön und um Himmels willen, soll man ein Kind von 12 oder
15 Jahren mit einem Betrag von 6, 7 oder 8 Franken
pro Tag durchfüttern? Als ich in deren Alter war, gab es jeden Tag
drei Mahlzeiten, plus Znüni plus Zvieri.
Da sollte eigentlich der Lehrplan für die Schweizer Kochschulen anpeasst werden. Zum Beispiel so:
Hihi, haha, hoho, hehe...
Aber es ist jetzt einfach so, wie es ist, beziehungsweise wie die SKOS es empfiehlt. Abgesehen vom ziemlich fragwürdigen GLB (Grundbedarf für den
Lebensunterhalt)
ist die Sozialhilfe hierzulande gar nicht so übel: Die Miete wird von der Sozial-hilfe bezahlt, ebenso
Kosten für die medizinische Grundversorgung. Zusätzliche Ausgaben werden je nach Situation ebenfalls übernommen. Dazu kommen allfällige
Integrationsbeiträge und sogar ein Einkommensfreibetrag.
Friede - Freude - Eierkuchen, so könnte man die Schweizer Sozialhilfe nennen. Wenn da nur nicht die Boys und Girls vom rechten
Rand wären, die herausgefunden haben, dass manche Sozialhilfebezüger ein höheres Einkommen haben als Arbeitende, die für einen Hungerlohn sich halb
zu Tode schuften. Nur, was heisst schon „vom rechten Rand”? - Well, das sind Leute von der SVP, teilweise von der FDP und vielleicht auch einige
von der Mitte.
Aber wir Schweizerinnen und Schweizer haben diese Leute ja gewählt! Und so setzen sich einige humane Exemplare vom rechten
Rand enthusiastisch dafür ein, die Sozialhilfe allgemein und den GLB speziell auszudünnen; damit soll der Anreiz für mehr Eigenverantwortung gesteigert werden.
Die Berner SVP hat sich da in den letzten Jahren besonders hervorgetan. Lesen Sie dazu bitte im Kapitel 15 einiges über die
„Die Sozialhilfe des Kantons Bern - eher eine Asozialhilfe”
2. Der Warenkorb im Alltag
Wenn ein gesunder Mensch im arbeitspflichtigen Alter seinen Job verliert und trotz zahlreicher Anstrengungen keine neue Stelle findet,
dann wird er nach 2 Jahren ausgesteuert und muss - sofern er nicht Vermögen und Immobilien hat - von der Sozialhilfe leben.
Die Sozialhilfe gemäss SKOS übernimmt die Grundversorgung für Wohnkosten, Medizin uund besondere Situationen. Daneben gewährt sie mir eine Zulage
für fördernde Leistungen und eine Integrationszulage. Sie erlaubt mir sogar ein bescheidenes, durch eigene Arbeit erzieltes Einkommen.
Und dann kommt noch der GLB hinzu; ein Betrag, über den ich frei verfügen kann. Die Devise dabei lautet:
„Arbeit statt
Fürsorge”. Der Liebhaber von Fremdwörtern sagt vielleicht lieber:
„Integration statt Sozialhilfe”.
Auf den ersten Blick scheint diese Sozialhilfe nicht übel. Ich als Sozialhilfe-Empfänger bin immerhin eine Zeitlang „versorgt”.
Bescheiden zwar, aber es dauert ja nicht so lange; denn in absehbarer Zukunft werde ich hoffentlich wieder einen Job finden und mich selber
finanzieren können.
Trotzdem,
der GLB ist einfach zu niedrig. Ich bezweifle, dass damit eine bescheidene und menschenwürdige Lebensführung mit
sozialer Teilhabe möglich ist. Offenbar ist selbst der SKOS nicht so „wohl” bei der ganzen Sache. Diesen Eindruck stellt sich ein, wenn
man liest, was sie (die SKOS) am 8. Januar 2019 unter dem Titel
„Weniger Sozialhilfe ist zu wenig”
als Stellungnahme zu geplanten Sozialhilfe-Abbau-Gelüsten seitens der SVP und weiterer rechtsrandiger Politiker publiziert hat.
Also, wenn das
ICH von der Sozialhilfe leben müsste (was zum Glück nicht mehr möglich ist, da ich im AHV-Alter bin),
würde ich zuerst meinen
privaten Warenkorb ausrechnen. Dabei würde ich mir - man verzeihe mir diese Unverschämtheit -
ein bisschen Luxus leisten, indem ich...
...8 Zigaretten pro Tag rauche...
...dreimal pro Woche in der Beiz EIN BIer oder EINEN Kaffee trinke...
...und mir zweimal pro Monat ein gutes Stück Fleisch leiste...
...und mir jede Woche eine Flasche Rotwein gönne...
...und meiner Frau einmal im Monat Blumen schenke...
...und meine Grosstochter einmal pro Monat in den McDonald's ausführe...
...und einmal pro Monat mit meiner Frau ins Restaurant essen gehe und die ganze Konsumation bezahle...
...und einmal im Monat 2-4 Personen zum Essen einlade und dabei billig koche...
...und alle zwei Monate zum billigen Coiffeur gehe...
...und mir monatlich Lektüre (Zeitungen, Illustrierte, Taschenbücher) kaufe...
...und monatlich 1 längere Zugfahrt (zB. Thun-Zürich retour) und 2 kürzere Zugfahrten (zB. Thun Bern retour) unternehme...
...und monatlich 2 Mehrfahrtenkarten Area Thun kaufe, damit ich nicht immer von A nach B latschen muss.
Rauchen
Bier/Kaffe auswärts
2x Luxusfleisch
Schöner Rotwein
Blumen für meine Frau
McDonald's
Mit meiner Frau im Restaurant
Einladung zum Essen
Coiffeur
Lektüre
1 längere Zugfahrt
2 kürzere Zugfahren
2 Mehrfahrtenkarten
Anteil Halbtax-Abo
Total Luxus
GLB
- Luxus
Rest
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
108
56
24
48
30
30
80
80
20
50
61
37
25
15
664
1031
- 664
367
Das ginge natürlich gar nicht. Zu diesen Ausgaben käme ja noch Essen und Trinken dazu, Kleider und Schuhe, Reinigungs- und Hygieneartikel usw...........
dazu. Und dann würde es überhaupt nicht mehr reichen, weder hinten noch vorne - weder links noch rechts - weder oben
noch unten!!! Ich müsste also auf die meisten Luxusausgaben verzichten und täte mich dann halt mit der (hoffentlich baldigen) Aussicht
auf eine Stelle und damit auf einen anständigen Lohn trösten
15. Die Sozialhilfe des Kantons Bern
Leider eine Asozialhilfe
Es gibt Leute, welche wegen einer unheilbaren Krankheit keine Aussicht auf Job und Lohn haben. Die dümpeln ziemlich hoffnungslos dahin und sind
auf Teufel-komm-raus der Sozialhilfe ausgeliefert. Dazu gehören beispielsweise viele ME/CFS-Patientinnen und -Patienten.
Auf
infosperber.ch
habe ich einen interessanten Artikel über die Sozialhilfe entdeckt: Er trägt den Titel „Wer Sozialhilfe bekommt, ist öfter krank”.
Ein Abschnitt ist folgender Frage gewidmet:
Macht Krankheit arm oder Armut krank?
Eine berechtigte Frage, vor allem im Kanton Bern. Denn
der Kanton Bern brilliert mit dem schweizweit niedrigsten
Grundbedarf. Auf der Website von der SKOS habe ich eine interessante Grafik gefunden:
Hübsch, diese Grafik, und der Berner Bääär leuchtet im schönsten Blassgelb. Da kann man ja direkt froh sein, dass der Kanton Bern derart knausert,
sonst wäre fast die ganze Karte im gleichen, langweiligen Grün gemalt. Es wäre noch zu eruieren, ob dieser faule Apfel unter den Schweizer Kantonen
seit 2011 - also
seit 13 Jahren - denselben GLB von Fr. 977.- ausrichtet, oder ob er schon 2011 geizte und sich um die
Empfehlungen des SKOS foutierte.
Die Differenz vom Berner GLB zur Empfehlung der SKOS beträgt zwar nur 55 Fränkli. Eine Pappenstiel für Ganzgut- und Halbgut-Verdienende; ein namhafter
Betrag jedoch für jemand am untersten Ende der bürgerlichen Sozialhierarchie.
* * * * * * *
Man verzeihe die Ausdrucksweise, aber sie ist notwendig, denn
es ist einfach so arschkrass unentschuldbar, dass
der Kanton Bern seit 12 Jahren (sic!) den immer gleich hohen GLB ausrichtet!!!
Warum ist der Kanton Bern in der Sozialhilfe ein solcher Geizhals? - Bitte lesen Sie:
„Gegen Arme, Kinder und Kranke ”
Wochenzeitung (3. Oktober 2013)
Der Kanton Bern kürzt die Sozialhilfe um zehn Prozent. Der von einer bürgerlichen Mehrheit durchgesetzte Beschluss
könnte sich als Präzedenzfall für weitere Angriffe auf die Sozialhilfe erweisen... ...Mit der Kürzung der Sozialhilfe
setzt sich der Kanton Bern bewusst über die Skos-Richtlinien hinweg...
„Schnegg erntet heftige Kritik”
Berner Zeitung (24. Dezember 2018)
Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (SVP) erntet heftige und breit abgestützte Kritik für einen neuen
Gesetzesentwurf im Sozialbereich. Parteien, Verbände und Gemeinden stellen sich quer.
„Darfs ein bisschen weniger sein?”
Urs Bruderer im „Rebublik“ (18. April 2019)
Der Kanton Bern stimmt über eine Senkung der Sozialhilfe ab. Wie viel Geld ein reiches Land
seinen Ärmsten geben soll, ist keine
einfache Frage - und hat Folgen für die ganze Schweiz.
Treibende Kraft ist der Berner SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg.
Schnegg ist Mitglied einer
parteiinternen Arbeitsgruppe, die die Sozialhilfebeiträge in der ganzen Schweiz senken möchte...
„Sozialhilfe kürzen: Der strengste Regierungsrat der Schweiz”
SRF Rundschau (24. April 2019)
Der Berner SVP-Regierungsrat Pierre-Alain Schnegg sagt, Arbeit müsse sich lohnen. Er will deshalb
die Sozialhilfe kürzen. Die Abstimmung
im Kanton Bern hat Signalwirkung für die ganze Schweiz
und polarisiert. Bern wäre der erste Kanton, der den Grundbedarf der
Sozialhilfe antastet.
Sozialhilfebezüger fürchten um ihre Existenzgrundlage. Doch Polit-Quereinsteiger Schnegg lässt sich
von der
Kritik nicht beirren.
„Die sadistische Strategie von Schlüer und Schnegg ”
Wochenzeitung (2. Mai 2019)
Am 19. Mai entscheiden die Berner Stimmberechtigten, ob die Sozialhilfe gekürzt werden soll.
Der vorläufige Höhepunkt einer landesweiten
SVP-Kampagne 986 Franken erhaltenSozialhilfe-
bezüger gemäss den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe
(Skos) als Existenzminimum
für den monatlichen Lebensbedarf. Zu viel für die SVP. 600 Franken sind genug.
„Schneggs mieser Feldzug gegen die Armen ”
Wochenzeitung (5. August 2021)
Der Berner Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (SVP) will vor Gericht die Kürzung der Sozialhilfe
für eine fünfköpfige Familie erstreiten. Wie "Der Bund" berichtete, hat Schnegg trotz
eigenem Rechtsdienst den SVP-Anwalt Patrick Freudiger damit beauftragt.
„19. Mai 2019 / Kantonale Volksabstimmung / Botschaft des Grossen Rates des Kantons Bern /
Änderung des Gesetzes über die öffentliche Sozialhilfe”
Grosser Rat des Kantons Bern (11. März 2019)
...mit der Vorlage des Grossen Rates sollen die Ansätze für den Grund bedarf in der Sozialhilfe gesenkt wer den
Ziel ist es, die Erwerbsarbeit im Vergleich zum Bezug von Sozialhilfe attraktiver zu machen sowie Kanton
und Gemeinden finanziell zu entlasten. Der Grosse Rat hat die Änderung mit 79 Ja gegen 63 Nein bei drei
Enthaltungen angenommen.
„5 Fragen und Antworten zur Sozialhilfe-Schlacht in Bern”
Watson (2019)
Die Sozialhilfe ist in der Schweiz ein umstrittenes Thema. Linke Politiker wollen sie ausbauen, rechte Politiker
kürzen. Die Gesetzeslage ist in den Kantonen zwar nicht ganz deckungsgleich, mit der Schweizerischen Konferenz
für Sozialhilfe gibt es aber zumindest einen nationalen kleinsten Nenner. Genau hier setzt die Berner Reform an.
Doch was hat das konkret zu bedeuten? Fünf Fragen und Antworten dazu.
Besonders interessant: Die Kommentare am Schluss der Seite.
Nur gut, dass das Berner Stimmvolk in der
„Abstimmung zum kantonalen Sozialhilfegesetz vom 19. Mai 2019”
diesen unmenschlichen Versuch der Sozialhilfekürzung mit 53% „Nein” zu 47% „JA” ins Nirwana befördert hat. Auch der
Volksvorschlag wurde abgelehnt.
Es ist eine Frechheit, dass sich die Damen und Herren vom „Grossen” Rat und der Regierungsrat trotz Volksentscheid weiterhin um die
Empfehlungen der SKOS foutieren. Und es ist zu befürchten, dass sich Maître Schnegg und seine Kumpane von der SVP weiterhin
bemühen werden, arme Leute zu schinden.
Ende Januar 2023 sandte ich ein Email an den Grossen Rat des Kantons Bern und an Herrn Pierre Alain Schnegg:
An den Grossen Rat des Kantons Bern (gr-gc@be.ch)
An Herrn Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (info.gsi@be.ch)
Sozialhilfe Kanton Bern
Guten Tag
Die SKOS hat in ihren Empfehlungen zum GBL für dieses Jahr den Betrag von monatlich
Fr. 1031.- für einen 1-Personenhaushalt festgesetzt.
Erlauben Sie mir die Feststellung, dass dieser Betrag nur mit grösster Mühe und dauerndem Abwägen seitens des Sozialhilfeempfängers/der
Sozialhilfeempfängerin eine "bescheidene und menschenwürdige Lebensführung mit sozialer Teilhabe (soziales Existenzminimum)" ermöglicht.
Aber es ist jetzt halt so; immerhin werden in fast allen Kantonen die Empfehlungen der SKOS befolgt oder wenigstens diskutiert.
Nicht so im Kanton Bern. Mit Befremden habe ich feststellen müssen, dass sich der Kanton Bern immer noch an die SKOS-Empfehlungen von 2011 hält
und auch 2023 - also dreizehn Jahre später - nur einen monatlichen GLB von Fr. 977.- für einen 1-Personenhaushalt ausrichtet.
Der Kanton Bern beglückt also seine Sozialhilfeempfänger und - empfängerinnen mit nur knapp 94.5% des von der SKOS Betrages empfohlenen GBL.
Sie - sehr verehrte Damen Grossrätinnen und Herren Grossräte - haben sich 2014 eine gross-zügige Entschädigungserhöhung gegönnt. Diese stieg
für jede Grossrätin und jeden Grossrat von vorher durchschnittlich 16'000 Franken netto auf durchschnittlich 23'600 Franken netto; dadurch erhöhte sich
Ihre Entschädigung auf einen Schlag auf durchschnittlich 147.5%.
Hier 94.5% für die Sozialhilfe, dort 147.5% für den Grossen Rat.
Sehr verehrte Damen Grossrätinnen und Herren Grossräte, ich gönne Ihnen Ihre grosszügige Entschädigung von Herzen. Und ich habe ein GROSSES Herz.
Ich habe allerdings auch ein grosses Herz für die Armen und Bedürftigen. Daher täte es mich interessieren, warum Sie - sehr verehrte Damen
Grossrätinnen und Herren Grossräte, sehr verehrter Herr Regierungsrat Schnegg - sich seit Jahren um die Empfehlungen der SKOS foutiert haben
und weiterhin foutieren.
Für eine erhellende Antwort danke ich Ihnen im voraus.
Freundliche Grüsse
Markus Aellig
Eines muss ich Herrn Schnegg zugute halten: Seine Antwort kam bereits einen Tag später als Email (ich habe den Text zwecks leichterer Lesbarkeit in
mehrere Absätze unterteilt):
Sehr geehrter Herr Aellig
Vielen Dank für Ihre Nachricht. Gerne nehme ich zu Ihren Ausführungen wie folgt Stellung:
Sie beziehen sich für Ihren Vergleich auf den Grundbedarf für den Lebensunterhalt (GBL) in der Sozialhilfe. Aus unserer Sicht darf zur Beurteilung der
Lebenssituation von Sozialhilfebeziehenden aber nicht nur der Grundbedarf beigezogen werden. Zwar ist der GBL das Fundament in der Sozialhilfe,
doch werden verschiedene Kosten zusätzlich zum GBL übernommen, z. B. die Miete, inkl. Nebenkosten, und die Krankenversicherung.
Weiter werden individuelle notwendige Kosten über die so genannten situationsbedingten Leistungen (SIL) bezahlt (z. B. Kinderbetreuung, Erwerbsunkosten,
Zahnarztrechnungen, krankheits- oder behinderungsbedingte Auslagen etc.).
Jede bedürftige Person, die nicht erwerbstätig ist, hat Anspruch auf eine Integrationszulage von 100 Franken pro Monat, wenn sie sich nachweislich
angemessen um ihre soziale und / oder berufliche Integration bemüht. Arbeitet die Person oder ist sie in Ausbildung, schaffen Erwerbs-freibeträge
zusätzlichen finanziellen Spielraum. Gerade was die Höhe dieser Einkommens-freibeträge betrifft (200 Franken bis 600 Franken), ist der
Kanton Bern im schweizerischen Vergleich sehr gut positioniert. Mit Integrationsleistungen und insbesondere durch Erwerbsarbeit lässt sich der
monatlich zur Verfügung stehende Betrag in der Sozialhilfe somit deutlich erhöhen, was als Anreiz zur raschen Erwerbsintegration dienen soll.
Gemäss SKOS-Richtlinien wird der GBL seit 2009 an die aktuellen Preis- und Lohnentwicklungen angepasst. Der Kanton Bern ist allerdings
mit der Berechnungsweise der Teuerung, welche die SKOS anwendet, nicht einverstanden. Erlauben Sie mir kurz etwas technisch zu werden, um Ihnen
erklären, wieso wir nicht einverstanden sind:
Die SKOS vollzieht die Teuerung im gleichen prozentualen Umfang wie die Anpassung der Ergänzungsleistungen zu AHV/IV. Die Überprüfung
einer allfälligen Teuerungsanpassung basiert auf dem Mittel des Preis- und Lohnindexes (Mischindex). Die dem Mischindex unterliegende Preisentwicklung
berücksichtigt auch die Veränderung der Miet- und Gesundheitskosten. Die Miete, die effektiven Mietnebenkosten und die Krankenkassenprämien
werden jedoch wie erwähnt im Rahmen der Sozialhilfe nicht über den Grundbedarf abgegolten, sondern zusätzlich zum GBL finanziert.
Die Anwendung des Mischindexes führt daher zu einer Verzerrung bei der Teuerungsanpassung zugunsten der Sozialhilfebeziehenden. So wäre eine
auf dem Landesindex für Konsumentenpreise (LIK) basierende und adaptierte Berechnung für den GBL in der Sozialhilfe realistischer, da
nur die Preisentwicklung der Güter berücksichtigt würde. Zudem weisen wir darauf hin, dass in den letzten zehn Jahren die Preisentwicklung
gemäss LIK wiederholt rückläufig war und das Preisniveau 2021 unter dem Niveau von 2011 lag (negative Teuerung).
Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) hat den Einwänden des Kantons Bern Rechnung getragen und prüft nun,
wie der Index sinnvoll angepasst werden kann.
Wir planen aus den erwähnten Gründen aktuell keine Anpassung des GBL. Da die weitere Entwicklung der Inflation jedoch ungewiss ist, werden wir
die Situation weiterhin genau beobachten und bei Bedarf die nötigen Massnahmen treffen.
Ich hoffe, Ihnen mit diesen Ausführungen unsere Erwägungen nachvollziehbar dargelegt zu haben.
Freundliche Grüsse
Pierre Alain Schnegg
Was Herr Schnegg da schreibt, ist ja alles schön und lustig und trotzdem wenig akzeptabel. Denn die Integrationszulage sollte gemäss SKOS
in jedem Kanton ausgerichtet werden, nicht nur im Kanton Bern! Dass der bernische Einkommens-freibetrag sich zwischen
200 und 600 Franken bewegt... also, damit würde ich nicht so plagieren. Gemäss SKOS sollte er monatlich 400 bis 700 Fränkli für eine
Vollanstellung betragen.
Seitens des Grossen Rates erhielt ich einige Tage darauf folgenden Brief von der Justizkommission:
Man kann über den Grosen Rat und den Regierungsrat des Kantons Bern lamentieren, und man kann die Gelüste einzelner Mitglieder der SVP
nach einem Abbau der Sozialhilfe beklagen. Es muss jedoch festgestellt werden, dass die Damen und Herren vom Grossen Rat und vom Regierungsrat
in einer demokratischen Wahl
vom Volk gewählt und damit in den politischen und behördlichen Prozess bugsiert wurden und
werden. Der Grosse Rat entscheidet dann im Auftrag des Volkes je nach Parteicouleur und eigener Meinung; der Regierungsrat setzt dann den Entscheid
des Grossen Rates in die Tat um.
Es ist so paradox: 2019 verwirft das Berner Volk den Antrag der Berner Regierung zur Sozialhilfekürzung.
Es ist aber auch dasselbe Volk, welches die sozialhilfeleistungs
unwilligen Damen und Herren gewählt hat.
Sind am Ende WIR einfachen Berner Bürgerinnen und Bürger
für diesen harschen Sozialhilfe-Minimalismus verantwortlich?