Das Brautpaar wünscht viel Orgelmusik
März - Mai 2019
Vorspann
In einer Kirche im Berner Oberland wird im Mai dieses Jahres eine Trauung stattfinden. Das Brautpaar hat spezielle Musikwünsche, die mir von der Pfarrerin schon vor Monaten mitgeteilt worden sind:
Vorspann 20th Centery Fox und Star Wars Theme (John Williams) bis ca min 1:40/2:00
Halleluja Orgel
Ave Maria (Schubert) Orgel
Kiss from a Rose (Seal) Orgel
River Flows In You (Yiruma) Orgel
Zelda Theme Orgel

Ziemlich viele Stücke, nicht wahr? Und wie spiele ich die? Nach Gehör? Nach Noten? Aber meines Wissens gibt es davon keine auffindbaren und brauchbaren Orgelnoten. Ja was macht man da? Vielleicht zuerst mal die Aufnahmen alle anhören.
Ja? - Nein?
Ob ich den Job wohl am besten ablehne? Denn, sogar wenn ich Noten hätte, müsste ich die Stücke ziemlich üben und dann auf einer Orgel einrichten und spielen, die man im besten Fall als "mittel-kleine Orgel" taxieren müsste. Aber ich habe ja gar keine Noten! Und wenn ich den Job annehme, dann sind mir unzählige Stunden Vorbereitungszeit sicher. Denn ich muss ja zuerst die Stücke nach Gehör aufschreiben, was manchmal sehr harzig geht und lange dauert. Und vom Honoräääärchen, das ich später erhalten werde, schweigt des Sängers Höflichkeit ja eh.....

Am Schluss beschliesse ich trotz allem, den Job anzunehmen. Denn 1. bin ich jetzt ja Rentner und habe (theoretisch) viel Zeit, und 2. herrscht ja in weiten Kreisen gegenüber der Kirche und speziell der Orgel, der Orgelmusik und den Organisten eine kritisch-ignorierend-ablehnende Haltung. Es ist deshalb erfreulich, wenn sich ein Brautpaar für Orgelmusik interessiert und ihr einen gebührend wichtigen Platz bei der Trauung einräumen will. Da muss ich doch einfach den musikalischen Wünschen eines solchen Brautpaares nach Möglichkeit entgegenkommen. Dabei spielt es (wenigstens für mich) keine grosse Rolle, ob jetzt Bach und Mendelssohn oder Pop- und Filmmusik gewünscht werden - abgesehen eben von den noch nicht vorhandenen Noten.

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Es gibt auch "Fälle", bei denen ich getrost absagen kann. So wie letzten Sommer, da hätte ich in Mürren an einer Trauung spielen sollen. Ich nahm an, dass ich das übliche Programm absolvieren müsste, nämlich Eingang, Ausgang, 1-2 Zwischenspiele und vielleicht noch ein Lied oder zwei. Einige Tage vorher erhielt ich von der Pfarrerin den Ablauf, und gemäss diesem sollte ich nur zwei Gemeindelieder begleiten; den Rest würde eine Sängerin mit Keyboard bestreiten.

Aber bitte schön, ich spinne doch nicht! Ich gehe doch nicht wegen zwei Liedchen von Kaufdorf nach Mürren und zurück. Zum Glück fand ich dann eine in Lauterbrunnen wohnhafte Kollegin, die den undankbaren Job übernahm.

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Ich werde mich bei der Trauung im kommenden Mai auf vier Songs beschränken. Und einen Song - hallelujah! - habe ich ja schon, nämlich Halleluja von Cohen/Pentatonix. Also bleiben 3 Songs übrig. Und da darf ich sicher auch meine Vorlieben ins Spiel bringen und höre mir die Stücke noch einmal an...
Auswahl
1.   Vorspann 20th Centery Fox und Star Wars Theme (John Williams) bis ca min 1:40/2:00
Ist nicht so mein Ding. Musikalisch eher wild und chaotisch; daher wird es schwierig und zeitraubend sein, die Noten nach Gehör aufzuschreiben.
2.   Halleluja Orgel
Hab ich schon im Repertoire.
3.   Ave Maria (Schubert) Orgel
Wird auf der betreffenden Orgel nicht sonderlich wirken. Ist aber leicht.
4.   Kiss from a Rose (Seal) Orgel
Gefällt mir. Lebhaft und temperamentvoll, wenn man es schnell genug spielt. Nicht so schwierig.
5.   River Flows In You (Yiruma) Orgel
Musik vom schmachtenden Korean Boy, gespielt vom Orgelsenior. Warum nicht? Das Problem ist halt der totale Unterschied zwischen Orgel- und Pianosound. Die vielen langen Pausen im Klavier-Original, was macht man derweil auf der Orgel?
6.   Zelda Theme Orgel
Erinnert mich ein wenig an den Film "Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten" mit Gerd Fröbe. Klanglich und harmonisch höre ich da Reminiszenzen ans legendäre "Trio Emerson, Lake & Palmer". Wird auf der Orgel ziemlich wirkungsvoll klingen, vor allem, wenn ich die Originalversion des "Main Theme" als Vorlage nehme.
...und entscheide mich dann für Nr. 2, 4, 5 und 6.
Das musikalische Gehör
Als ich ein kleiner Knirps war, schenkten mir meine gespürigen Eltern eine kleine diatonische Handorgel, sehr hübsch, mit Perlmuttintarsien. Ich begann alsbald aus dem Stegreif und nach Gehör zu spielen und nachzuspielen - Volksliedchen und Ländlermusik - und legte mir mit der Zeit ein ziemlich umfangreiches Repertoire bei.
In der 5. oder 6. Klasse erhielt ich ein Klavier und Unterricht. Damals begann ich die Jazzmusik zu lieben, vor allem den Dixieland. Ich hatte eine kleine Schallplattensammlung und schrieb nach und nach viele Stücke auf, meistens nur die Melodie, die Akkorde und gelegentlich noch den Ablauf. Klaviersolos schrieb ich dagegen notengetreu auf und entdeckte dabei, dass viele Jazzpianisten Noten nur andeuten. Sie werden vermutlich nicht gespielt, aber irgendwie hört man sie dennoch.
Fürs Notenschreiben brauchte ich Notenblätter, einen Plattenspieler... ...und einen Bleistift mit Gummi, denn ich verschrieb mich dauernd. Es dauerte jeweils unendlich lange, bis ich ein Klaviersolo einigermassen 1:1 aufgeschrieben hatte, so dass ich es auch nachspielen konnte.
Später kamen dann noch einige Popsongs dazu, zum Beispiel "The House of the rising sun" von den Animals, "A whiter shade of pale" von Procul Harum oder "Penny Lane" von den Beatles. Ausserdem fantasierte und improvisierte ich dauernd auf der Drahtkiste herum und lernte zudem viele Klavier-Begleitungen aus unserem Schulsingbuch spielen.
Kurz, ich war von der Musik richtiggehend "angefressen"! Das dauernde Nachspielen und Aufschreiben und Improvisieren trainierten mein Gehör auf wundersame Weise, und ich kann von diesem Gehör noch heute Gebrauch machen. Sonst wäre ich ja gar nicht in der Lage, die vom Brautpaar gewünschten Stücke aufzuschreiben.
Arbeitsplatz fürs Notenschreiben
Heute brauche ich fürs Notenschreiben den PC mit Internet und das Notenschrebprogramm SIBELIUS. Ausserdem ein ruhiges Zimmer. Ist schon merkwürdig: Als ich noch im ländlichen Kaufdorf wohnte, herrschte ein Höllenlärm ums Haus herum. Die BLS ratterte pro Stunde 4-8 Mal am Haus vorbei, oft mit Verspätung (BLS heisst im Gürbetal "Berns langsamste Strecke"), in der benachbarten Zimmerei wurde den ganzen Tag gehämmert, gebohrt und gesägt, und die Bauern ratterten mit ihren stinkenden und polternden Vehikeln von frühmorgens bis sehrspätabends in der Gegend herum.
Aber hier, im vorstädtischen Schönauquartier, herrscht wundersame Ruhe. Ist doch toll, nicht?

Ich habe noch ganz vergessen: Fürs Notenschreiben bräuchte man ein ausgezeichnetes - um nicht zu sagen "eidetisches" - Gedächtnis. Da hapert es bei mir leider ziemlich. Ich kann eine kurze musikalische Floskel zehnmal anhören, stelle mir schon das Notenbild vor, und schwupps! - fünf Sekunden später habe ich alles vergessen (vielleicht sollte ich mal meinen Bierkonsum hinterfragen...). Also muss ich die Floskel noch und noch anhören, bis sie sich endlich in dem Körperteil einnistet, der bei anderen Leuten das "Gehirn" ist... Aber es gibt doch das schöne Sprichwort: "Wer langsam läuft, kommt auch ans Ziel."

Und so sieht es auf meinem Bildschirm aus: Rechts ein kleines Browserfenster, links das grosse Sibeliusfenster, und ich pingponge dauernd zwischen den Fenstern hin und her.
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In der Zwischenzeit
Im März schreibt mir die Pfarrerin ein Email:
Lieber Markus
Am ... werden wir gemeinsam die Trauung von ... und ... gestalten. Nach dem zweiten Traugespräch nun konnten wir den Ablauf besprechen. Ein Mail mit den Wünschen an dich hattest du ja schon erhalten. Was meinst du nun zu Eingangs- und Ausgangspiel und Zwischenspielen? Ist dies für dich möglich?
Liebe Grüsse ...


Ich schreibe zurück:
Liebe ...
Ja, das geht schon. Wenn Du Details wissen möchtest, dann schau doch bitte bei
www.markus-aellig.ch/fu08/subpage_19_orgel_und_trauung.html nach.
Liebe Grüsse, Markus


Einige Tage telefoniert mir die Braut, und fragt noch einmal nach. Ich meine dabei zu spüren, dass ihr und dem Bräutigam der Main Song aus "Star Wars" ein besonderes Anliegen ist. Ich habe dieses Stück aber aus meiner Liste gestrichen (s.o.).

Anfangs April schreibt mir die Pfarrerin:
Lieber Markus
Folgende Überlegungen für die Trauung vom ...:
Mir war bewusst, dass das Brautpaar besondere Wünsche hat, jedoch war mir nicht bewusst, wie viel Arbeit das für dich bedeutet. Ich bitte dich um Entschuldigung.
Nachdem nun klar ist, dass es also ein anderes Eingangsspiel braucht an der Trauung, bittet dich das Brautpaar, dass du ein Orgelstück für Sie auswählst, dass du in deinem Repertoire hast. Das Brautpaar schlägt auch vor «River flows in You» zu streichen.
Da es nun mehr als 4 Stücke sind, kannst du mit einem zusätzlichen Lohnzuschuss rechnen.
Im Anhang nochmals der Ablauf.
Liebe Grüsse ...


Und hier der Ablauf:

Ich ging dann in mich und dachte mir, dass das Star-Wars-Main-Theme für das Brautpaar offenbar sehr bedeutungsvoll ist. Ich hörte mir nochmals die Orgelversion (s.o.) an, dann die Originalversion mit Orchester. Schliesslich wurde ich im Internet fündig.

Es gibt eine wunderbare Internet-Adresse für Musiker. Da kann man sich jede Art von Noten und weiteres Zeugs herunterladen - und das alles gratis! Man braucht nur ein Google-Konto. Die Adresse lautet:

https://musescore.com/sheetmusic.

Hier konnte ich die ganze Orchester-Partitur herunterladen, und das erst noch gratis! Schauen Sie sich die zwei ersten Seiten an:
Wenn man sich auf "musescore" befindet, ein Stück ausgewählt hat und dann den Download-Button anklickt, kommt folgendes Popup-Fenster:
Ich öffnete dann die Star-Wars-Partitur als MusicXML-Datei und speicherte sie auf dem PC ab. Anschliessend öffnete ich sie im SIBELIUS-Notenprogramm (was ziemlich lange dauerte) und hatte dann die volle Partitur vor mir:
Das waren ziemlich viele Notensysteme. Ich verringerte deren Abstand, worauf sich die Partitur in einem höheren Zoom-Faktor darstellen liess:
Aber das war immer noch furchtbar unübersichtlich. Ich löschte deshalb alle Takte ab der Stelle, wo das Stück in esoterische Sphären gleitet, dann entfernte ich alle Schlaginstrumente, die Flöten und Oboen sowie das Klavier und die Harfe:
Es wurde langsam übersichtlicher. Aber jetzt musste ich wieder drei Systeme für die Orgel einfügen. Dann vergrösserte ich die Ansicht, bis ich von der Orgel bis zu den Hörnern alle Instrumente sah:
Ja? - Nein?
Und jetzt sitze ich vor dem Bildschirm, schaue die unzähligen Noten an und überlege mir, welche Stimmen und Stellen wirklich wichtig sind und wie man aus diesem Notendschungel ein Arrangement für eine Dorforgel ohne spezielle Sounds, nur mit 2 Manualen und ohne Setzer fabrizieren könnte...

... die Büez  die Büez  die Büez  die Büez  die Büez  die Büez  die Büez  die Büez  die Büez  die Büez 


Schauen Sie sich einmal die Disposition der grossen dreimanualigen Grönlund-Orgel in der Sankt-Michaels-Kirche in Turku (Finnland), auf der Marko Hakanpää seine Star-Wars-Version spielt...
...und vergleichen Sie sie mit der kleinen, zweimanualigen Dorforgel, auf der ich dasselbe Stück spielen sollte.
Der Fall ist klar: Ich schaffe den "Star Wars Titelsong" einfach nicht!!! Es bleibt ja noch genug:
Heureka!
Mittwoch 17. April: Endlich habe ich eine halbwegs brauchbare Orgelversion mit vielen Streichungen und Vereinfachungen zusammengebastelt. Jetzt fehlt nur noch die grosse Orgel mit kräftigen Zungenregistern und satten 16-Füssen im Manual... Ein Problem gibt es allerdings noch: Die Titelmelodie aus "Star Wars" dauert als Eingangsspiel nur knapp eineinhalb Minuten, bei langsameren Tempi knapp zwei Minuten. Da wird sich das Brautpaar beim Einzug etwas sputen müssen.

Montag 6. Mai: Mittlerweile habe ich fast alle Stücke beisammen. Die Noten sehen Sie, wenn Sie auf den jeweiligen Titel klicken.
Während und nach der Trauung
Und jetzt sitze ich also am Spieltisch, kurz vor der Trauung, und warte auf das Ende des Glockengeläutes. Die zahlreichen Hochzeitsgäste haben sich in der Kirche verteilt - vorne die eher älteren Semester plus ein paar Kinder, weiter hinten die eher jüngeren Semester.

Draussen wartet vor Kälte schlotternd die Braut mit ihrem Vater, und drinnen unterhalten sich die Leute angeregt. Ich frage mich mit einigem Bangen, ob die Plauderei beim Verklingen der Glocken wohl auch verklingen werde. Denn - wie oben genügsam angemerkt - das Star-Wars-Main-Theme-Eingangsspiel ist dem Brautpaar ja sehr wichtig, und ich hab's ja auch gebührend ausgenotet, eingerichtet und geübt.

DENKSTE! Das Geschwätz dauert weiter, ich beginne den Sternenkrieg zu klimpern, es wird weiter getratscht, die Braut betritt die Kirche, ich klimpere, es wird getratscht...

...und ich frage mich, warum ich nicht "Weisst du, wieviel Sternlein stehen?" spiele, wenn ja ohnehin niemand zuhört. Anyway, nach beendetem Eingangsspiel werden auch die Hochzeitsgäste ruhig, und die Trauung nimmt ihren Lauf. Ein unerwartetes Phänomen (bitte hier klicken) tritt gegen den Schluss der Feier auf; dann spiele ich das Spielkonsolenliedli "Zelda" zum Ausgang, und das war's dann.

Eine Reaktion in Form eines "Merci" oder "Gut gemacht" vom Brautpaar oder von irgendeinem Hochzeitsgast erwarte ich nicht, erhalte ich auch nicht. Ich verlasse dann die Kirche und staune, dass ich 67 Jahre alt werden musste, um einen derart sinnlosen Job zu fassen und eine derart gleichgültige und undankbare Hochzeitsgemeinde mit Musik zu beliefern.

Ich begebe mich dann schnurstracks ins Restaurant "Kreuz" und bringe mich mit Bier und einigen lustigen Sprüchen von Kellner Zoltan wieder auf Vordermann.
Fazit
Mein Aufwand für diese Trauung war enorm gross. Die Reaktion des Brautpaars und der Hochzeitsgäste hingegen war null. Muss ich es noch ausdeutschen? Wahrscheinlich schon:

"Wenn ich mich für einen kirchlichen Anlass musikalisch derart ins Zeug lege, erwarte ich im Gegenzug von den am kirchlichen Anlass beteiligten Personen und Gruppen ein bisschen Dankbarkeit und Anerkennung!"

Das ist nicht so viel verlangt, gell! Übrigens: ich werde demnächst die Stücke aufnehmen und auf diese Website laden.