"Nach der Orgelmatinee sitzt Markus Aellig mit uns am Wirtshaustisch und trinkt wie ein ganz
normaler Mensch sein Bier. Man merkt ihm die unendlichen Musikwelten, die in seinem Kopf zu
Hause sind, gar nicht an. Er ist ein guter Zuhörer und gemütlicher Tischkumpan beim Mittags-Apero.
Natürlich weiss er, was er kann, aber er hat es nicht nötig, davon ein Aufhebens zu machen.
Nicht am Tisch unter Freunden. Es genügt ihm vollkommen, Orgel zu spielen.
Damit ist für den eher wortkargen Zeitgenossen alles gesagt. Alles, und Unerhörtes!
Aellig, der Konzerte aus dem Ärmel schüttelt wie das sprichwörtliche Karnickel Junge wirft,
Aellig, der begnadete Improvisator, Komponist, Interpret und Klangzauberer, Aellig mit der
Leichtigkeit des Seins bis in die Finger- und Zehenspitzen, bestellt dann noch ein zweites Bier,
bevor er sich zum Mittagsschlaf zurückzieht. Am Abend spielt er dann wieder ein Konzert,
oder mindestens einen Abendgottesdienst.
Er trinkt seine beiden Biere nicht wie ein normaler Mensch,
Aellig ist ein normaler Mensch. Und was übrigens das Bier anbelangt, so findet er dieses Gebräu
eigentlich ein grässliches Gesöff. - "Aber warum trinkst Du es denn?" - "Warum? Zur
Entspannung natürlich", beantwortet er die Frage trocken und zündet sich die nächste Zigarette an.
Entspannung, nun, die muss schon auch mal sein in einem Leben, wie Markus Aellig es täglich führt.
Bei dieser enormen Beanspruchung sind 7 Stunden Übezeit pro Tag nicht die Ausnahme, sondern die
Regel. Für Aellig gilt dasselbe Prinzip wie für jeden Fussballclub: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel!
Im vergangenen Frühjahr wurde in der Stadtkirche Thun die siebenhundertste Orgelmatinee (seit 1997)
gefeiert. Von diesen halb-stündigen Mittagskonzerten jeden Sonntag spielt Markus Aellig die
allermeisten selbst.
Ein willkürlich herausgegriffenes Monatsprogramm spricht Bände und lässt
erahnen, was in diesen 700 Konzerten musikalisch alles passiert ist. In den Matineen notabene,
von den längeren Abendmusiken, von den Gottesdiensten, die Aellig bis in die Intonation jedes
Gemeindechorals hinein mit Fantasie, Liebe und dem ihm eigenen Charisma musikalisch gestaltet,
ganz zu schweigen.
"Gospelmusik - Mys Müetti het mer gschribe - Ländlermusik - Bach und Messiaen -
Orgeljazz - Johann Sebastian Bach - Franck und Mendelssohn - Georg Friedrich Händel" -
das sind einige Matinee-Titel vom Mai und Juni dieses Jahres. Wobei von Messiaen gleich die
ganze Ascension aufgeführt wurde, ein monumentaler Zyklus, hier einfach ein Programmpunkt unter
hunderten. Einmal fragte mich Markus Aellig, ob der 93. Psalm von Julius Reubke sich
musikalisch eigentlich lohne. Ich bejahte, betonte aber die extremen spieltechnischen Schwierigkeiten
dieses berüchtigten halbstündigen Opus. Drei Wochen später führte er es auf.
Dass dieser musikalische Tausendsassa daneben auch immer wieder Folk-, Gospel-, Rock- und
Jazzprogramme bietet, in eigenen Bearbeitungen, die das Publikum jedes Mal förmlich vom Hocker
reissen, ist wunderbar, und das im wörtlichen Sinn. Denn Markus Aelligs musikalische Bandbreite,
in diesen kurzen Aufführungsintervallen, grenzt für mich an ein Wunder und dürfte nicht nur
national sondern auch international, in der Musikszene einmalig sein.
Letzthin besuchte ich seine Matinee, die dem Latin-Rock-Gitarristen Carlos Santana gewidmet war.
Gitarrenmusik auf der Orgel! Aellig verwandelt diese Nummern in echte, grosse Orgelmusik.
Und dann Aellig als Ländlermusiker! Mit dieser Kunst straft er viele elitäre Klassikliebhaber Lügen,
die behaupten, Ländlermusik sei Kitsch. Unter Aelligs Fingern wird auch der Ländler zum
herausragenden musikalischen Ereignis.
Ich möchte aus den 700 Programmen noch ein ganz spezielles aus dem Jahr 2010 kurz herausgreifen:
Requiem für vier tote Bäume. Zu diesem Konzert schrieb Aellig eine Anmerkung:
"Nachdem dieses Jahr bereits zwei Bäume neben der Stadtkirche gefällt worden sind, sollen
nächstes Jahr zwei weitere Bäume der Säge zum Opfer fallen. Sie hören deshalb heute eher
verhaltene und ernste Musik." -
Sicher ahnen Sie, worauf ich mit diesem ausführlichen Zitat hinaus will.
Der Gefeierte ist ein sensibler Zeitgenosse, mit Empathie nicht nur für seine Mitmenschen,
sondern auch für Bäume, für die Natur ganz allgemein. Wenn der Amerika-Fan Aellig von seinen
Reisen in der Neuen Welt zurückkommt, gibt es in seiner legendären Power-Point-Show mit
Orgelmusik immer auch eine Bilderserie mit Bäumen, eine mit Blumen, eine mit atemberaubenden
Land-schaftsszenarien. Aellig, der Naturbursche, der mit seinen beiden Töchtern, als sie noch
Schulmädchen waren, auch immer wieder gern ein Bachbett aufsuchte, um dort zu bräteln, einer auch,
der das Berner Oberland auf hundert Pfaden zu Fuss durchwandert hat.
Meine Damen und Herren, wenn ich mit Markus Aellig am Wirtshaustisch oder an seinem Küchentisch
sitze, kommt mir manchmal plötzlich Wolfgang Amadeus Mozart in den Sinn. Hören Sie Mozarts Musik,
und dann lesen sie ein wenig in seinen Briefen. Mozart war ein ganz normaler Mensch,
begabt für Freundschaften, einer der gerne in geselliger Runde ass und trank. Einer,
der zwar wusste, was er konnte, seine geniale Veranlagung aber eigentlich nicht der Rede wert fand.
Aellig ist genau so, und deshalb werde ich diese Rede auch bald beenden, um ihn nicht noch
länger zu nerven.
Aber dieser Preis ist ja nicht nur eine Auszeichnung für den Thuner Stadtorganisten,sondern
gleichermassen auch eine Auszeichnung für die Orgel, die in breiten Bevölkerungsschichten viel
geschmähte "Königin der Instrumente", welche unser Preisträger mit seinen Konzerten in so
glücklicher Weise unter die Leute bringt. Die Orgel ist mitnichten das langweilige Kircheninstrument,
als das es landauf landab gehandelt wird. Steigen Sie an einem beliebigen Sonntagmittag zur
Stadtkirche Thun hoch, setzten sie sich in einen der Chorstühle und hören Sie selbst!
Ich beglückwünsche deshalb die Kulturkommission Thun ausdrücklich dafür, dass sie für einmal
einem Organisten mit den Musikpreis zugesprochen hat. Die Orgel hat diese Auszeichnung
mehr als verdient, und der mit ihr geehrte Organist erst recht.
Ich danke Ihnen."